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Allein das Atmen ist ein Wunder.
Lehre der Suk-Schule
Ein ungewöhnlicher warmer Wind wehte vom Meer her. Gurney hatte auf heftige Regenfälle gehofft, damit die zur Demonstration eintreffenden Massen entmutigt wurden, aber noch während er zu den blauen Stellen am Himmel hochschaute, schienen die Wolken sich zu zerstreuen.
Jessica hatte Recht gehabt, als sie ihn davor gewarnt hatte, was das Volk vielleicht tun würde. Bürgermeister Horvu und seine begeisterten Anhänger verstanden nicht einmal ansatzweise, mit was für einer gefährlichen Giftschlange sie spielten. In Herzog Letos Namen würde Gurney sich jedoch bemühen, mit einer mitfühlenden, väterlichen Note an die Sache heranzugehen. Hoffentlich funktionierte es ...
Gurney trug zu diesem Anlass seine edelste Kleidung und stand mit finsterer Miene und einer kleinen Gruppe örtlicher Sicherheitsbeamter auf einer hoch schwebenden Suspensorplattform am Rande des größten Parks in Cala City. Im Laufe der letzten Stunde hatte sich eine begeisterte und ungestüme Menge auf der mit sternförmigen Blumen bewachsenen Grasfläche versammelt.
Er wünschte, er hätte mehr darüber herausgefunden, was genau die unbeholfenen Rebellen im Sinn hatten. Mit seinem entwaffnenden und oftmals ahnungslosen Lächeln versprach Bürgermeister Horvu, dass es eine friedliche Demonstration werden sollte, und Gurney war sich nicht sicher, was er nun machen sollte. Er hatte Soldaten geholt, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, falls ein Teil der Menge aufsässig wurde.
Nach Jessicas Beschwerden über den Schaden, der in den vergangenen Monaten von den Pilgern angerichtet worden war, hatte Paul imperiale Sicherheitskräfte auf Caladan stationiert. Obwohl Gurney die Männer nicht besonders gut kannte, waren sie, soweit er es beurteilen konnte, tüchtig und hingebungsvoll, aber es handelte sich trotzdem um Fremdweltler. Insbesondere an diesem Tag wären objektivere Sicherheitskräfte vielleicht besser ...
Verzehrt von seiner Selbstherrlichkeit hatte Horvu sich und seinen Anhängern eine unbeschränkte Erlaubnis gemäß der Regelungen in der Stadtcharta erteilt. Das kam Gurney wie ein Interessenkonflikt vor, aber der Bürgermeister hielt sich unbekümmert an überholten Vorstellungen davon fest, wie die Lokalpolitik im Verhältnis zur Imperialen Regierung funktionierte.
»Das Volk von Caladan weiß, was es tut, Graf Halleck«, hatte der Priester Sintra gesagt. Obwohl er darüber erfreut war, wie viele Leute zu der Demonstration gekommen waren, machte es ihm Sorgen, dass Gurney beschlossen hatte, mit bewaffneten Wachen zu erscheinen, statt sich ihrer Sache anzuschließen. »Sie haben dem Haus Atreides lange gedient, Mylord, aber Sie wurden nicht hier geboren. Sie können wahre caladanische Angelegenheiten unmöglich verstehen.«
Gurney war überrascht, wie effizient die Demonstration organisiert war, da Horvu und seine Anhänger nicht dafür bekannt waren, über entsprechende Fähigkeiten zu verfügen. Es machte beinahe den Eindruck, als hätten sie Hilfe von außen erhalten. Als die Menge im Park immer größer wurde, nahm Gurneys Besorgnis zu. Seine Wachen wären vielleicht nicht in der Lage, die Ordnung wiederherzustellen, falls der Mob außer Kontrolle geriet.
Gurney schaute sich nach Horvu um. Er bezweifelte, dass der alte Bürgermeister sich als Brandredner erweisen würde, aber das machte ihn nicht zu einem kleineren Problem. Gurney wollte nicht, dass Pauls Heimatwelt zu einem weiteren Schlachtfeld wurde. Große Menschengruppen, vor allem solche, die bestimmte Ziele verfolgten, waren ohne große Mühe zu beeinflussen, ihre Stimmungslagen schwangen zu leicht um, ihre Gefühle wandelten sich zu schnell. Er hatte gesehen, wie die Armeen Muad'dibs in Raserei getrieben wurden, weil ihr leidenschaftliches Gefühl, im Recht zu sein, sie taub für alles machte, was man ihnen nicht eingetrichtert hatte. Wenn diese Menge außer Kontrolle geriet, konnte das eine ebenso unkontrollierbare Vergeltung der imperialen Soldaten im Namen Muad'dibs auslösen.
Seine Wachsoldaten waren Veteranen, aber sie kannten nicht den Charakter der Familien, die seit Generationen hier lebten, dieser gutherzigen Menschen von Caladan, die nun von einem Bürgermeister in die Irre geführt wurden, der keinen gesunden Menschenverstand besaß.
Als er über die unruhige Menge hinwegblickte, die glaubte, eine einfache Lösung gefunden zu haben, die ihr geliebter Paul Atreides in Ehren halten würde, versuchte Gurney, sich daran zu erinnern, wie er einmal gewesen war: stark, unbeugsam und bestimmt, wenn es um wirklich Wichtiges ging. Er hatte Heldenballaden fürs Baliset komponiert und war losgezogen, um für das Haus Atreides zu kämpfen, wann immer die Pflicht es von ihm verlangte. Er vermisste diese Zeiten, doch er wusste, dass sie niemals wiederkehren würden. Heutzutage waren die Momente, die er mit seiner Musik verbrachte, manchmal eine Zuflucht, die ihn die schrecklichen Wirklichkeiten seiner Vergangenheit vergessen ließ.
Als er vor einigen Wochen mit einem Herbergswirt einen Krug Tang-Bier getrunken hatte, hatte er sein Instrument zur Hand genommen und angefangen, darauf zu klimpern. Der Wirt hatte über die Köpfe der in der Kneipe versammelten Menge hinweg gerufen: »Es ist an der Zeit, dass du ein neues Lied für uns singst, Gurney Halleck. Wie wäre es mit der ›Ballade von Muad'dib‹?«
Die Leute hatten gelacht und ihn gedrängt, doch Gurney hatte sich geweigert. »Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ihr werdet noch eine Weile warten müssen, Männer.«
In Wirklichkeit war er nicht daran interessiert, ein solches Lied zu schreiben. Obwohl Gurney seine Meinung nie vor irgendjemandem kundtun würde, fand er, dass »Muad'dib« zu tief gesunken war, um solch heroischer Worte würdig zu sein. Der Gedanke hinterließ in ihm auf sehr persönlicher Ebene ein Gefühl des Verlusts.
Paul ist vielleicht der Imperator Muad'dib, dachte Gurney. Aber er ist nicht Herzog Leto.
Inzwischen wich ein Teil der Menge zur Seite, um ein Stück Grasfläche freizumachen, und Gurney sah, wie der Bürgermeister sich einen Weg hindurchbahnte und den Leuten zuwinkte, während er sich der Suspensorplattform näherte. Als Horvu auf die herabgesenkte Plattform trat, tadelte er Gurney wie ein kleines Kind: »Graf Halleck, Sie müssen Ihre Soldaten zurückziehen! Welche Botschaft wollen Sie den Menschen damit vermitteln?« Er blickte mit finsterer Miene zu den bewaffneten Männern, die gut sichtbar um den Park verteilt waren. »Wir haben unsere Proklamation bereits an den Imperator auf Arrakis geschickt. Dies hier ist nur eine Feier, eine Bekräftigung unserer Entschlossenheit.«
»Wenn es nur eine Feier ist, dann gehen Sie in die Tavernen und Restaurants«, schlug Gurney vor. »Wenn Sie sich jetzt auflösen, bezahle ich sogar die erste Runde für alle.« Er glaubte kaum, dass das Angebot Wirkung zeigen würde.
Sintra schüttelte den Kopf. »Das Volk ist sehr zufrieden damit, wie es sich gegen Fanatismus und Bürokratie zur Wehr gesetzt hat. Lassen Sie ihm seinen Augenblick des Triumphs.«
»Es ist kein Triumph, solange Muad'dib die Unabhängigkeitserklärung nicht akzeptiert hat.« Gurney wusste, dass das wohl kaum geschehen würde.
Erschöpft, aber wachsam trat er von der Plattform und bedeutete seinen Soldaten, ihn zu einer abgesperrten Freifläche zu begleiten. Während sie sich entfernten, erhob sich die Suspensorplattform und schwebte über die Köpfe der Menge hinweg, wobei Bürgermeister Horvu zu den Leuten hinabwinkte.
Der Kommandant der Fremdwelt-Truppen, ein Bator namens Nissal, nahm seine Mütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Der Bürgermeister behauptet, dass er nur eine Rede halten will, Herr.«
»Mit einer Rede kann man Kriege beginnen, Bator. Ihre Leute sollen wachsam bleiben.«
Der Priester rief in einen Sprachverstärker und forderte die Leute auf, der Plattform zu folgen, die durch eine breite Lücke zwischen den Bäumen des Parks flog. Das Publikum bewegte sich mit, manche rennend, andere lachend, als wäre das Ganze nur ein Spiel.
Gurney, der nicht auf die Bewegung vorbereitet war, rief in seinen Kommunikator: »Schaffen Sie Luftaufklärer her. Unsere Leute sollen sie flankieren und beobachten, aber lassen Sie nicht zu, dass sie irgendwelchen Unsinn anstellen. Denken Sie an das alte Sprichwort: ›Narren können durch unbesonnene Dummheit mehr Schaden anrichten als eine Armee mit einem koordinierten Angriff.‹«
Bürgermeister Horvu ermutigte die Menge und führte sie aus dem Park ins alte Fischerdorf hinunter, wo die Leute sich an den Anlegestellen und auf dem von der Ebbe freigelegten steinigen Strand versammelten. Er ließ die Plattform über dem Wasser schweben. Zahlreiche Boote kamen näher heran, damit die Insassen die Rede verfolgen konnten.
»Hier haben sich Angehörige aller Klassen und Berufe versammelt!« Das Lautsprechersystem verstärkte Horvus Stimme. »Ich bin seit Jahrzehnten euer Bürgermeister, und ich habe mir euer Vertrauen verdient. Jetzt möchte ich mir eure Unterstützung verdienen. Während wir darauf warten, von Imperator Paul Atreides zu hören, müssen wir unsere Überzeugung und Stärke demonstrieren. Wir zeigen den Fremdweltlern, wozu das Volk von Caladan in der Lage ist.«
Während Gurney mit wachsendem Entsetzen zuhörte, stießen Horvu und der Priester abwechselnd anfeuernde Rufe aus. Zuerst drängten sie die Fischer, ihre Solidarität zu zeigen, indem sie ihre Boote nicht auslaufen ließen und keinen Fang einbrachten. Sie verwiesen auf Petitionen, die Caladans Unabhängigkeit unterstützten und die in eben diesem Moment überall in der Stadt verteilt wurden, und sie forderten alle Händler auf, irgendjemandem Waren zu verkaufen, der sie nicht unterschrieben hatte.
All das verstörte Gurney zutiefst, und es kam noch schlimmer. Der Bürgermeister verkündete, dass Djihad-Pilger von nun an abgewiesen werden sollten und auf Caladan nicht mehr willkommen waren, bis Paul dem Planeten eine annehmbare Form von Autonomie verlieh.
Einer der Soldaten meldete sich über den Kommunikator, was den ohnehin schon angespannten Gurney zusammenzucken ließ. »Mylord, sie haben den Hauptraumhafen stillgelegt. Sie haben die Landekodes gestört und weisen jedes Schiff ab, das den Namen Chisra Sala Muad'dib verwendet. Alle eintreffenden Piloten müssen einem bindenden Vertrag zustimmen, der bekräftigt, dass der Name dieser Welt Caladan lautet und nicht anders.«
Gurney war verblüfft darüber, wie schnell die Agitatoren handelten und wie gut alle Teile ihres Plans aufeinander abgestimmt waren ... wie gut sich bei dieser Revolution eins ins andere fügte. Jetzt, wo der interplanetare Handel unterbunden war, würden die Gildenkuriere und die MAFEA-Vertreter ernste Beschwerden einreichen, sofortiges Handeln verlangen und die peinlichen Neuigkeiten in Muad'dibs Imperium verbreiten.
In all den Jahren des Djihads hatte Gurney die abscheulichen Dinge gesehen, die Muad'dibs rücksichtslose Truppen taten, wenn sie durchzugreifen beschlossen. Caladan würde keine Immunität genießen.
Er gab sofort Befehle. »Bringen Sie Militärflugzeuge des Hauses Atreides in den Luftraum über dem Raumhafen von Cala City. Halten Sie alle Schiffe vom Starten und Landen ab. Wir legen die Anlage auf unsere Art still – und nicht so, wie die Rebellen es wollen. Blockieren Sie alle Schiffe, die den Heighliner verlassen wollen, und schicken Sie sie ohne Erklärung zurück. Ich will nicht, dass etwas nach außen dringt, bevor wir dieses Chaos unter Kontrolle haben.«
Gurney befahl seinen Männern, die Versammlung unter Einsatz kleiner militärischer Thopter – die sonst als Rettungsflugzeuge für Fischer auf stürmischer See dienten – mit einer Machtdemonstration aufzulösen. Er ging selbst an Bord eines Thopters und führte eine Flotte der surrenden Fluggeräte an, als sie im Tiefflug über das Hafendorf hinwegschossen und Stöße komprimierter Luft abfeuerten, die die Menschen zu Boden gehen ließen, ohne viel Schaden anzurichten.
Gurney feuerte persönlich die Luftkanone ab, die den verwirrt dreinblickenden Bürgermeister und den Dorfpriester von ihrer Suspensorplattform ins Wasser schleuderte. Dann eilten imperiale Soldaten mit Handschellen herbei, um die lautstärksten Demonstranten festzunehmen.
Während Gurneys Thopter über die Stadt hinwegflogen und seine Truppen jedes Viertel unter Kontrolle brachten, erhielt er eine Flut von Berichten. Viele der imperialen Wachen von Fremdwelten gingen nicht mit der Zurückhaltung vor, die er angeordnet hatte. Gurney hatte Luftkanonen eingesetzt, um die Leute zu zerstreuen und die Stimmung zu dämpfen, doch dann wurden die Wachsoldaten eifriger in ihrer Pflichterfüllung, und mehrere zuvor friedliche Demonstranten wurden schwer verletzt oder getötet und handelten sich gebrochene Knochen und aufgeschlagene Schädel ein.
Am Raumhafen startete Bator Nissal auf eigene Faust eine impulsive und entschlossene Operation. Er ließ den Hauptterminal stürmen, um die Demonstranten in die Flucht zu schlagen, die dort eine primitive Belagerung begonnen hatten. Die panischen Stadtbewohner wehrten sich, und elf imperiale Wachen wurden getötet, zusammen mit fast einhundert Agitatoren. Der Raumhafen wurde wieder geöffnet, und Gurney hob die Blockade auf, doch er empfand dabei keinerlei Genugtuung.
Er hatte auf den Schlachtfeldern des Djihads zahlreiche Gemetzel gesehen, doch das hier war das Volk von Caladan, keine Krieger, keine Blutkommandos, die sich in einen heiligen Krieg stürzten. Es handelte sich schlicht und einfach um leichtgläubige Bürger von Pauls Heimatwelt.
Angewidert ging er zwischen den Leichen umher, die unter Decken in einer Straße der Altstadt aufgereiht lagen. Er verspürte schmerzhaften Kummer und Zorn, und er fluchte und stürmte zum Dorfgefängnis.
Gurney drängte sich in die Gefängniszelle, in der sich ein zerzauster und verwirrter Bürgermeister Horvu befand. Der alte Mann hatte ein Heilpflaster auf einer Wange, und aus seiner Stimme klang unverhohlener Unglaube, der sich mit beißender Anklage mischte. »Ich bin enttäuscht von Ihnen, Gurney Halleck. Ich dachte, Sie lieben Caladan.«
»Sie sollten von sich selbst enttäuscht sein, nicht von mir. Ich habe Sie gewarnt, dass Sie Ihre ›Demonstration‹ nicht durchführen sollten. Ich habe Sie angefleht, aber Sie haben nicht auf mich gehört. Jetzt wird Muad'dibs Erwiderung tausendmal schlimmer sein, weil Sie Unruhen ausgelöst haben, die er auf keiner Imperiumswelt zulassen kann. Ich werde mich auf jeden Fetzen Freundschaft berufen, den er noch für mich empfindet, und ich bete, dass ich ihn davon überzeugen kann, Gnade zu zeigen. Aber ich kann für nichts garantieren.« Gurney schüttelte den Kopf. »Wie soll ich das nur Lady Jessica erklären, wenn sie zurückkehrt?«
»Schämen Sie sich, Gurney Halleck! Einst waren Sie ein treuer Gefolgsmann von Herzog Leto, aber Sie haben Ihre Atreides-Prinzipien vergessen.« Der Bürgermeister starrte ihn wütend durch die Gitterstäbe an. Die Haut um seine Augen herum war dunkel und wund. »Ich habe mein ganzes Leben lang dem Volk von Caladan gedient, und ich hätte nie gedacht, dass es zu so etwas kommen würde. Unser Widerstand wird weitergehen. Eines Tages werden wir uns glücklich schätzen, Paul wie einen verlorenen Sohn willkommen zu heißen, doch nur, wenn er sich daran erinnert, wer er ist ... und wer wir sind.«
Gurney seufzte. »Andere würden das als Blasphemie gegen Muad'dib bezeichnen. Sie Narr, geben Sie mir eine Möglichkeit, Ihre Freilassung anzuordnen, und nicht einen Grund, Ihre Hinrichtung zu befehlen!«
Der Bürgermeister starrte ihn finster an, schwieg jedoch.
Zwei Tage später traf eine Antwort von Arrakis ein, ein trockener Brief, der Gurney dazu gratulierte, dass er seine Aufgabe gut erfüllt und die Ehre des Imperators verteidigt hatte. Die Unterschrift schien von Paul zu sein, obwohl die Worte wahrscheinlich von irgendeinem Beamten stammten. Der Briefkopf auf dem Filmpapier trug das Siegel des »Büros der Djihad-Administration«. Gurney fragte sich, ob Paul seinen Bericht überhaupt gelesen hatte.
Mit einem resignierten Seufzer gab Gurney den sofortigen Befehl, alle festgenommenen Demonstranten ohne weitere Erklärungen freizulassen, einschließlich der Anführer.